WARUM DISRUPTION ÜBERBEWERTET WIRD - Interview mit Karl Gernandt, Präsident des Verwaltungsrates der Kühne Holding AG

Stefanie Unger: Adaptiveness oder Disruption, Herr Gernandt?

Karl Gernandt: Der Begriff „Disruption“ wird überstrapaziert und ist zu einem Buzzword geworden, das nichts zur Problemerkennung beiträgt, sondern im Gegenteil zu Fehlinterpretationen verleitet. „Disruptiv“ wird mittlerweile stellvertretend und undifferenziert für fundamentale Veränderungen verwendet. Dabei wird nicht im Geringsten aufgezeigt, wie ein Unternehmen in einem sich immer schneller und strukturell verändernden gesellschaftlichen und ökonomischen Umfeld erfolgreich bleibt.

Wie würden Sie adaptive Führung beschreiben?

Adaptives Führen ist eine neue Unternehmensdisziplin, die besonders Traditionsunternehmen nicht leicht fällt, da sie eine grundsätzliche Abkehr von der Strategie als Langfristplanung bedeutet und in letzter Konsequenz auch zu einer gewissen Hierarchiebefreiung führt. Im Vordergrund steht jedoch die Sicherung der Relevanz des Unternehmens in einem sich schnell verändernden Marktumfeld. Adaptive Führung erstreckt sich über alle Hierarchieebenen: das Beobachten, Analysieren und Aufnehmen von Megatrends, die sowohl individuelles als auch regionales Kundenverhalten und damit auch die Produktentwicklung beeinflussen.

Was hält Sie nachts wach? 

Für mich drehen sich die zentralen Themen um die Mitarbeiter und die Kunden. Wie bleibt das Unternehmen für zukünftige Mitarbeiter attraktiv? Wie gewinnen wir auch morgen die für uns besten Mitarbeiter und wie tragen wir zu deren Weiterentwicklung bei? In diesem Zusammenhang muss sich jedes Unternehmen die Frage nach der Kultur und seinen damit verbundenen Werten stellen. Eine weitere Herausforderung hängt mit der sich verändernden Rolle des Kunden zusammen. Er wandelt sich vom „stummen“ zum „lauten“ Konsumenten. Plattformen, auf denen Produkte besprochen und verglichen werden, schaffen eine noch neue Art von Transparenz, die wesentlich mehr zum Erfolg oder Misserfolg eines Produktes beiträgt als ausgeklügelte Marketingkampagnen.

Was für Auswirkungen wird dieser Einfluss oder dieser Wandel weiter in der Zukunft haben? 

Dass man viel stärker global, regional und lokal denken muss. Das gilt sowohl für die Konzipierung und Produktion als auch für die Vermarktung. Die neu gewonnene Stärke des Konsumenten führt zudem dazu, dass vor allem europäisch geprägte Unternehmen die mit „social media“ verbundenen Chancen, aber eben auch Gefahren rasch lernen müssen.

Erfolg ist ausschließlich ein Gemeinschaftswerk

Wer beschäftigt sich in Ihrem Umfeld mit dem Thema Zukunft? 

Ich sehe die Schaffung des mir vorschwebenden adaptiven Umfelds als eine meiner Kernaufgaben als Verwaltungsrat. Damit sich im Unternehmen wesentlich mehr Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit dem Thema Zukunft auseinandersetzen und Veränderungen mit Blick auf die heutigen und zukünftigen Bedürfnisse des Kunden initiieren, müssen wir alle organisatorischen Hemmnisse wegräumen und den für Adaptiveness notwendigen Mindset greif- und nachvollziehbar machen. In einem adaptiven Umfeld ist der Erfolg letztlich ausschließlich ein Gemeinschaftswerk und somit eine Frage der Unternehmenskultur.

Wie lang- oder kurzfristig betrachten und planen Sie die Zukunft? 

Ich glaube, dass jede Planung, die über drei Jahre hinausgeht, unrealistisch und geradezu unehrlich ist. Vorsicht ist aber auch bei den kurzfristigeren Planungswerkzeugen geboten, wie zum Beispiel dem noch weit verbreiteten klassischen Budgetierungsprozess. Dieser führt in der Regel zu einer mehrwöchigen, wenn nicht sogar mehrmonatigen Lähmung einer ganzen Organisation. Und wenn das Budget einmal verabschiedet ist, wird ein Großteil der Managementzeit auf Erklärung von Abweichungen gegenüber vormals getroffenen Annahmen verwendet. Nichts verhindert Adaptiveness mehr als die Ausrichtung an Vergangenem.

Mit welchen branchenfremden Personen tauschen Sie sich aus, um mal einen ganz anderen Blickwinkel auf Ihr Geschäft zu haben? 

Das sind sicherlich bei mir die Führungskräfte der globalen Banken. Weil ich diese virtuelle Welt mit der konkreten Welt des Welthandels gerne verbinde. Außerdem tausche ich mich mit Vertretern von Lehre und Forschung aus, deren Fragestellungen oft wesentlich weiter in die Zukunft reichen und zusätzliche Dimensionen betreffen als in der Geschäftswelt üblich.

Der Wandel als Konstante

Wie werden sich die Bedürfnisse und Wünsche Ihrer Kunden in der Zukunft ändern und wie beschäftigen Sie sich damit? 

Am Anfang dieser Fragen steht vermehrt die Auseinandersetzung mit technologischen und gesellschaftlichen Trends. Dies geschieht meist im engen Austausch mit unseren Kunden auf allen Hierarchieebenen. Sowohl auf Geschäftsleitungs- wie auch auf Spezialistenebene werden Einsatzgebiete von neuen Technologien diskutiert und auf ihre Relevanz für unsere Geschäftsbeziehungen geprüft. Während wir uns früher darauf beschränkt haben, nach der Relevanz einer Technologie auf das Transportvolumen zu fragen, beschäftigen wir uns heute in erster Linie mit der Veränderung der Geschäftsmodelle unserer Kunden. Wie wirkt sich zum Beispiel das 3D-Printing auf Kunden im Automotive-Sektor aus oder wie verändert E-Commerce die Geschäftsmodelle im Konsumgüterbereich. Wir wandeln uns vom reinen Transport- hin zum Industriespezialisten, der zusammen mit dem Kunden die effizientesten Logistiklösungen entwickelt.

Was bedeutet für Sie Erfolg heute und was, glauben Sie, wird sich in der Zukunft an den Bestandteilen von Ihrem Erfolg verändern? 

Erfolg ist für mich gleichbedeutend mit dem Erzielen einer nachhaltigen Wirkung in einem Kontext, der über das Unternehmen hinausgeht und sich damit von rein materiellen Zielen unterscheidet. Wer mit seinen Produkten oder Dienstleistungen letztlich das Leben seiner Kunden verbessern möchte und dies mit authentischen und klaren Botschaften verbinden kann, wird sowohl ideell als auch wirtschaftlich erfolgreich sein.

Welche drei Eigenschaften sind Ihnen am wichtigsten bei Mitarbeitern, die für Sie arbeiten?

Neugier, Ehrlichkeit und Durchhaltewillen. Sie sind die Grundsteine für Adaptiveness und Vertrauen. Wenn der Wandel zur Konstante wird, sind das die Werte, die ein Unternehmen stark machen.

Was war einer Ihrer größten Fehler in der Vergangenheit und wie haben Sie daraus gelernt?

Die eigene Überzeugung und den eigenen Veränderungswillen über den Austausch mit den betroffenen Stakeholdern zu stellen ist sicherlich ein Fehler, den ich durchaus gemacht habe. Ich habe daraus gelernt, mich vor und während eines Veränderungsprozesses mit den Positionen meiner Stakeholder besser auseinanderzusetzen und entsprechend zu kommunizieren. Nur so lässt sich sicherstellen, dass Entscheidungen jederzeit nachvollziehbar bleiben und nachhaltig unterstützt werden.

Was sind momentan Ihre größten Investitionen in die Zukunft? 

Digitalisierung von bereits standardisierten und automatisierten Geschäftsprozessen und datenbasierte Analytik im Bereich Planung.

Wie wird sich die Logistik in der Zukunft verändern?

Ich glaube, dass die Zeit des massiven Volumenwachstums des globalen Warenaustauschs vorbei ist und dass wir aufgrund von Änderungen im Konsumverhalten und protektionistischen Tendenzen eher wieder zu einer Regionalisierung kommen. Produkte werden vermehrt in der Region für die Region hergestellt werden. Das bedeutet für die Logistik eine Verlagerung von interkontinentalen Dienstleistungen hin zur schnell reagierenden Feindistribution innerhalb von Regionen.

Geprägt vom Null-Fehler-Ansatz

Wie sieht Ihr Bild vom Unternehmen der Zukunft aus? 

Ohne Experimente werden keine neuen Kundenbedürfnisse geweckt oder neue Wege gefunden, bestehende Bedürfnisse anders zu erfüllen. Das Unternehmen der Zukunft muss daher die dafür notwendigen Freiräume schaffen. Noch viel wichtiger erscheint mir aber, dass Innovation nur gefördert wird, wenn erfolglose Versuche toleriert wie erfolgreiche Experimente gefeiert werden. In unseren auf Risikominderung optimierten Konzernen europäischer Prägung ist dies geradezu ein Antithema. Wir sind zu lange geprägt von dem Null-Fehler-Ansatz, der vor allem dazu geführt hat, dass die meisten Mitarbeitenden in einem Unternehmen sichere Routine einer Tätigkeit mit unsicherem Ausgang vorziehen.

Wer oder was inspiriert Sie und welchen Einfluss hat das auf Ihre Rolle als Führungskraft?

Mich inspirieren immer Menschen, die große Zusammenhänge erkennen und mit unerwarteten Analogien neue Wege und Räume erschliessen. Menschen, die keine Angst haben, Bestehendes aufzubrechen und die Einzelteile neu zusammenzusetzen. Dazu gehören für mich ein Steve Jobs und ein Alfred Herrhausen. Sie erinnern mich täglich daran, dass am Anfang der Adaptiveness der Mut zur Veränderung steht.

stefanie unger